
MAA spricht mit Alfred Bast
In der Mitte liegt die Kraft.
Alfred Bast ist Maler und Künstler aus Abtsgmünd-Hohenstadt mit Ateliers in Hohenstadt und Berlin. MAA hat ihn im Interview auch als Philosophen erlebt. Seine Gedanken über die verbindende Kraft der Mitte haben das Potential den Blick auf das Leben zu verändern. Freundbilder statt Feinbilder und ein Leben in der „lichten Stille“ schaffen Räume für jeden einzelnen – und damit auch für die ganze Gesellschaft. Bast weiß aber auch um die Anstrengung, die dafür nötig sind. Während die Unterscheidung in „Gut und Böse“ einfach ist, braucht es für die Nutzung der befreienden Kraft der Mitte Energie – und fortwährende Balance.
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Bild: Benedikt Walther
Herr Bast, in ihrem Atelierbrief schreiben Sie: „Das Waldatelier ist momentan auch der richtige Ort, um dem absurden und gefährlichen Meinungssturm (…) der dich zum Feindbild-Experten, zum Gut-Böse-Bekenner machen will – mit lichter Stille zu begegnen.“ Können Sie das näher erläutern?
Wir leben in einer Zeit, die sehr extremistisch geprägt ist. Wir sind es gewohnt, Feindbilder zu konstruieren – eine Praxis, die als Nebeneffekt die Identifikation mit der eigenen Gruppe stärkt. Das ist eine uralte und bewährte Methode: Wenn es inneren Zwist gibt – sei es mit sich selbst, mit anderen oder innerhalb einer Gruppe – dann dient ein äußerer Feind oft dazu, die Einheit wiederherzustellen. Das gilt nicht nur gesellschaftlich, sondern auch auf individueller Ebene. Wenn wir mit uns selbst in Dissonanz geraten, suchen wir die Schuld meist im Außen – beim Nachbarn, beim Kollegen oder wem auch immer. Wir glauben, die Ursachen lägen außerhalb von uns – dass etwas oder jemand uns daran hindert, in Harmonie mit uns selbst zu sein. Das Feindbild ist also ein Mechanismus, der uns oft unbewusst bestimmt. Statt uns mit unseren eigenen ungelösten Aspekten auseinanderzusetzen, lagern wir sie aus – wir delegieren unseren „Schatten“ nach außen, wie es in der Psychologie von C.G. Jung beschrieben wird. Dieser Schatten bekommt dann eine Adresse. Und wenn wir diese Adresse attackieren oder vernichten, glauben wir, wieder ganz zu sein. Doch genau so denkt auch der „Andere“. So werden wir wechselseitig zu Projektionsflächen für Feindbilder.
Das klingt, als ob dieses Konzept auf einer unbewussten Ebene funktioniert. Aber Sie sagen auch, es sei für uns „nützlich“?
Vordergründig scheint es nützlich zu sein. Denn durch das Feindbild wissen wir indirekt: Wir sind die Guten, wir stehen auf der richtigen Seite. Die anderen sind die Bösen – darüber braucht man dann gar nicht mehr nachzudenken. Schon das Nachdenken darüber könnte gefährlich sein, weil man sich damit womöglich mit dem Feind „infiziert“. Das führt dazu, dass selbst das Bemühen um Verständnis als negativ bewertet wird. Wir sehen das in der Sprache: solche Begriffe wie „Versteher“ werden abwertend benutzt. Dabei bedeutet Verstehen doch eigentlich, dass man Zusammenhänge erkennt. Doch wenn das Verstehen selbst tabuisiert wird, entsteht keine Verständigung. Verstehen und Verständigen hängen ja eng zusammen. Dann heißt es: Kümmere dich bloß nicht ums große Ganze – konzentriere dich nur auf deine begrenzte und begrenzende Identität, alles andere ist zu gefährlich. So entstehen kognitive Grenzen. Es gibt den Begriff „kognitive Kriegsführung“. Er beschreibt, wie gezielt Feindbilder geschaffen werden, um Gruppenidentitäten zu festigen und Ressourcen durch Solidarität zu mobilisieren. Das funktioniert nur, solange das Feindbild ständig belebt und aufrechterhalten wird.
Das heißt, ohne Feindbild würde das System in sich zusammenbrechen?
Genau. Wenn der Feind verschwindet, zerfällt die Gemeinschaft oft wieder in kleinere Konflikte. Dann richtet sich die Projektion des Schattens nach innen – innerhalb der Gruppe, bis hin zur einzelnen Person. In der Kunst und in der Natur macht das keinen Sinn. Da gibt es zwar auch die Gegensätze und Extreme, doch sie agieren als polare Kräfte miteinander, wie Magneten mit Plus- und Minuspol. In der Natur geht es immer um Ausgleich der schöpferischen Spannung, ausgerichtet auf das komplexe Ganze. Und das Ganze hat einen Ort – die Mitte.
Sie haben in ihrem Atelierbrief die Idee des „innen und außen als zweipoligen Raum“ erwähnt. Was ist das?
Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Gehirn: Es besteht aus zwei Hälften, die grob gesagt für Emotion und Ration stehen und die erst durch ihre Verbindung das ganze Potenzial entfalten. Es ist also nicht nur links plus rechts, sondern wesentlich auch die Verbindung zwischen beiden, die unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Handeln ermöglicht. Ein weiteres Beispiel ist der Vogel mit seinen zwei Flügeln – links und rechts. Ist das nicht eine treffende Metapher für politische Flügel? Aber der Vogel besteht nicht nur aus seinen Flügeln. Er ist ein Ganzes. Der Vogel entscheidet nicht mit einem Flügel, wo er hinfliegt. Die Steuerung, die Orientierung geschieht aus seiner Mitte.
Das bedeutet, wer sich nur auf eine Seite schlägt, amputiert einen Teil von sich selbst?
Ja. Wenn ich sage: „Die Mitte existiert nicht, für mich ist nur links oder nur rechts relevant“, dann werde ich einseitig und verliere das Ganze aus dem Blick.
Und wenn die Extreme die Kontrolle übernehmen?
Dann verliert der Vogel seine Orientierung. Er gerät ins Taumeln, dann stürzt er ab. Die Mitte ist also nicht einfach ein neutraler Punkt zwischen zwei Extremen. Sie ist der Ort, an dem sich die Gegensätze schöpferisch verbinden, woraus eine übergeordnete, für das Ganze förderliche Ordnung entsteht.
Der Vogel ist also nicht nur eine Metapher, sondern ein reales Beispiel für das, was Sie beschreiben?
Ja, genau. Die Natur lehrt uns, dass die Mitte nicht einfach nur ein Kompromiss ist, sondern ein aktiver, lebendiger Ort, der Balance.
Das kann man auch auf die Arbeit eines Künstlers übertragen, der sowohl mit der linken als auch mit der rechten Hand arbeitet.Arbeiten Sie mit beiden Händen?
Neben der Malerei bin ich auch Musiker. Ich arbeite sehr bewusst mit beiden Händen – beim Trommeln zum Beispiel. Dabei ist die linke Hand oft führend. Das ist ein Training. Wie schon gesagt: der Körper arbeitet immer mit beiden Seiten, seinen „Extremitäten“. Auch unsere Arme und Beine sind Gegensätze. Würden wir nur mit rechts oder nur mit links gehen, müssten wir hüpfen. Wir kennen diese Einschränkungen schmerzlich, wenn wir ein Bein verletzt haben. Oder stellen Sie sich vor, jemand spielt Klavier und würde seiner rechten Hand das Spielen verbieten, das wäre absurd. Diese Diskussion um Gegensätze und die daraus resultierende Feindbildproduktion führt letztlich zur Einschränkung schöpferischer Vielfalt, schöpferischer Intelligenz und damit auch der nährenden Qualität, die aus dem Zusammenspiel der Gegensätze entsteht.
Sie meinen, dass Gegensätze sich ergänzen und nicht bekämpfen?
Das sehen wir in der Natur. Dort wirken Gegensätze zusammen, und daraus entsteht eine nährende Qualität. Tag und Nacht streiten sich nicht – sie sind grundverschieden, aber nur im Zusammenspiel entsteht ein Rhythmus. Sommer und Winter sind ebenso gegensätzlich, doch aus ihrem Wechsel entstehen Wachstum und Ernte. Ohne eine Mitte gibt es nur Zerstörung. Und das ist auf Dauer nicht nur sinnlos, sondern auch ziemlich langweilig.
Sie haben einen fast schon philosophischen Satz geprägt: „Die Mitte ist der Ort, der am weitesten entfernt ist von den Extremen und sie zugleich verbindet.“
Ja, genau! Das zeigt sich auch in unserem Körper. Es gibt zwei prägende Instanzen: das Corpus Callosum im Gehirn, das die beiden Gehirnhälften verbindet, quasi wie eine Brücke, und noch zentraler – das Herz. Das Herz liegt nicht nur anatomisch in der Mitte des Körpers – zwischen Kopf und Bauch –, sondern versorgt auch den gesamten Körper. Es bevorzugt nicht den rechten oder linken Lungenflügel, den rechten oder linken Arm. Es versorgt alles gleichermaßen, bis in die entfernteste Zelle, solange der Körper gesund ist. Das bedeutet: Wenn man eine komplexe Ganzheit aufrechterhalten will, muss man alle Teile versorgen, damit sie sich ihrer Zugehörigkeit zu dieser Ganzheit bewusst sind. Zwei Arme können nur gemeinsam eine dritte Sache erschaffen – etwa eine Vase formen. Wir können nur mit zwei Beinen einen Weg gehen. Und nur mit zwei Gehirnhälften lässt sich ein Gedanke wirklich vollständig formulieren. In der physischen Realität ist das vollkommen klar. Doch mental glauben wir oft, dass Spaltungen sinnvoll seien. Dabei sind Spaltungen etwas ganz anderes als die natürlichen Teilungsprozesse in der Natur.
Wie meinen Sie das genau?
Teilungen in der Natur sind notwendig und lebensfördernd. Eine Pflanze entwickelt Blätter, die sich in verschiedene Richtungen ausbreiten. Doch dabei sagt das linke Keimblatt nicht: „Ich bin das Gute“, und das rechte nicht: „Du bist das Böse.“ Es sind gleichwertige Bewegungen, die sich weiter verzweigen und ein höheres Ganzes formen. Und genau das ist die Orientierung zur Mitte und aus der Mitte. Die Mitte ist sowohl der Kern als auch das große Ganze. Sie ist der Ursprung und das Ziel.
Dann ist Differenzierung aus der Mitte heraus also gar nichts Negatives? Es sind nicht die Extreme das Problem, sondern die Extremisten?
Ja, das haben Sie treffend auf den Punkt gebracht! Extrempositionen sind notwendige Bestandteile des Wachstums. Teilen, Wachstum und Entfaltung ist das Prinzip des Lebens. Das sehen wir sehr deutlich an einem Baum mit seinen vielen Ästen und Verzweigungen. Doch wenn ein Ast eines Baumes behauptet, er allein stamme vom wahren Stamm ab, und ein anderer Ast vom selben Baum sagt dasselbe, ohne zu erkennen, dass beide Äste Teil eines großen komplexen Ganzen, eben des Baumes sind, entsteht ein Problem. Das lässt sich übertragen. Wir Menschen wachsen in bestimmten Traditionen auf, in bestimmten kulturellen und sprachlichen Kontexten. Unsere Identität leitet sich daraus ab. Nehmen wir an, eine Gruppe bezeichnet sich als „die Roten“ und eine andere als „die Blauen“. Beide sagen: „Wir sind die Ursprünglichen.“ Aber rein auf der sinnlichen Wahrnehmungsebene scheint das nicht möglich zu sein – die einen sind Rot, die anderen Blau, das kann doch nicht dasselbe sein! Also folgt daraus: Einer muss falsch sein. Da sich aber niemand selbst als falsch betrachtet, müssen es die anderen sein. So denken beide Seiten. Statt Verständnis und Austausch entsteht Rivalität, Angst vor dem anderen, Furcht vor Vermischung, vor Identitätsverlust.
Statt Verständnis und Austausch entsteht Rivalität, Angst vor dem anderen, Furcht vor Vermischung, vor Identitätsverlust.
Dann verkrampft man sich in seiner Zugehörigkeit – „Ich bin Rot, das ist meine Identität.“ Dabei übersehen sie, dass Rot und Blau einen gemeinsamen Nenner haben: das Licht. Und Licht selbst hat keine Farbe. Statt kreativer Zusammenarbeit entsteht Angst, dann Konfrontation. Doch gerade in den Feldern zwischen den Extremen liegt das schöpferische Potenzial – das weiß jeder, der kreative Ideen entwickelt. Nur aus diesen Spannungsfeldern kann etwas Neues entstehen. Stattdessen werden jedoch Mauern gebaut und Bedrohungsszenarien erschaffen. Das eigentlich kreative Feld verwandelt sich in einen Minenfeld, anstatt zu einem fruchtbaren Garten zu werden. Und das halte ich für keine gute Idee. In Zeiten der Extreme erscheint die Mitte wie eine Randerscheinung.
Sie haben den Begriff des Feindbilds angesprochen. Als Künstler steckt im Wort „Feindbild“ ja auch das „Bild“. Muss dieses Bild nicht erst geschaffen oder konstruiert werden?
Ja, wir haben die Möglichkeit, uns ein Feindbild zu konstruieren – aber ebenso könnten wir an einem „Freundbild“ schaffen. Das „Freundbild“ ist allerdings schwieriger, weil es über ein partielle Identität hinausgeht und auf die Ganzheit und die Mitte ausgerichtet ist. Wir sahen ja schon: Die Mitte ist nicht trennbar in Freund und Feind. Doch genau diese Trennung dient unserer partiellen Identität. Wenn wir uns nicht mit uns selbst auseinandersetzen – das heißt, wenn wir unsere eigenen Schwächen, unsere inneren Feindbilder nicht reflektieren –, dann gären sie in uns. Wir sind ja nicht immer im Reinen mit uns selbst, sondern erleben viele innere Widersprüche. Deshalb habe ich einmal geschrieben: „Liebe deine Feinde – also auch dich selbst.“ Denn Feindbilder tragen wir oft in uns selbst, als Folge von Fremderwartungen oder übersteigerten Selbstansprüchen. Da dies jedoch schwer zu ertragen ist, projizieren wir es auf andere.
Feindbilder tragen wir oft in uns selbst, als Folge von Fremderwartungen oder übersteigerten Selbstansprüchen. Da dies jedoch schwer zu ertragen ist, projizieren wir es auf andere.
Doch statt dies als Konflik zu sehen, könnten wir es als Potenzial, gar als ungeborenes inneres Vermögen, begreifen. Unsere Schattenseiten, unsere Fehler, unsere Ängste sollten nicht wegprojiziert, sondern als Teil unseres Selbst integriert werden. Sie gehören in unsere eigene „innere Gewürz-Küche“, in der unsere Hormone unsere Stimmungen köchlen. Diese inneren Prozesse sind essenziell für unser Gesamtbild, für unsere Ganzheit.
Wenn es uns gelingt, das Feindbild in uns selbst im „Freundbild“ aufzulösen, dann müssen wir andere nicht mehr als Feinde sehen. Dann erfahren wir eine neue Form von menschlicher Entwicklung und Entfaltung. Das führt zu Zufriedenheit, Glück und Freiheit. Zu einer Identität, die kein Feindbild benötigt, sondern aus einer schöpferischen Mitte heraus lebt. Diese Sichtweise ist für mich sehr viel bereichernder und kreativer, weil sie uns ermöglicht, sich selbst und so auch anderen Menschen offen zu begegnen.
Natürlich gibt es reale Bedrohungen – man darf nicht blind sein. Es geht nicht um eine „rosarote Brille“, sondern um eine klare Wahrnehmung der Realität. Doch dazu gehört auch das Wissen: Wir beeinflussen diese Realität durch unsere Sichtweisen und Deutungen maßgeblich mit. Wenn wir andere - und uns selbst - als Feinde betrachten, zwingen wir sie in diese Rolle, ohne ihnen eine Alternative zu lassen. Denn jede Projektion ist auch eine Suggestion. Wenn wir dagegen eine freundlich kluge Offenheit wagen, werden wir viele positive Überraschungen erleben. Das erfordert jedoch die Arbeit am inneren unkündbaren Arbeitsplatz. Es ist eine innere Arbeit. Und genau dazu möchte ich ermutigen.
Sie haben mehrfach den Begriff der Freiheit erwähnt. Ist Freiheit also die Belohnung für diesen Prozess?
Ich bin viel freier, wenn ich das Ganze sehe und nicht nur einzelne Teile – nicht nur links oder rechts, oben oder unten. Dann kann ich viel besser die Zusammenhänge verstehen und deshalb eher erkennen, welchen Weg ich gehe.
Und durch diese Freiheit entsteht ein neues Zusammenspiel?
Ja, so kann man das sagen. In dieser Freiheit können wir spontaner entscheiden und klarer erkennen, was förderlich ist und was nicht. Im klassischen Freund-Feind-Denken gibt es oft einen Zwang: Man weiß von vornherein, dass jemand ein „Freund“ sein müsste, weil er in der eigenen Gruppe ist – und ein Feind, weil er nicht dazugehört. Doch wenn sich die Verhältnisse ändern, kann der „Feind“ plötzlich zum „Freund“ werden, und umgekehrt. Wenn aber Feindbilder die Identität eines Kollektivs bestimmen, gibt es in diesem Kollektiv keine wirkliche Freiheit mehr und damit auch keine kreativen Spielräume und keine Innovation. Für mich liegt der große Gewinn der Umwandlung von Feindbildern in Freundbilder darin, dass wir lernen die realen Gefahren von denen zu unterscheiden die wir befürchten. Und zugleich zu erkennen, dass auch die bloß befürchteten sich zu realen Gefahren verdichten können.
Gibt es nicht auch reale Feinde?
Natürlich gibt es reale Feinde. Aber es gibt auch viele konstruierte Feindbilder, die wir uns selbst einpflanzen oder eingeplant bekommen. Wenn andere uns durch die Medien erklären wollen, wer unser Feind sein soll. Diese Feindbilder werden gezielt in unser Denken übertragen.
Sie meinen, Feindbilder werden weitergegeben, fast wie eine Infektion?
Bei dieser Übertragung braucht es oft nicht einmal rationale Argumente – sie wirkt fast wie ein Virus, das sich ansteckend verbreitet. Das ist die gefährliche und raffinierte Dimension von Propaganda. Sie ist jahrtausendealt, hat sich aber mit den heutigen Medien gewaltig weiterentwickelt. Propaganda nutzt Ängste, Feindbilder und Dystopien, um uns in bestimmte Muster zu lenken.
Könnte man dem etwas entgegensetzen – sozusagen ein Gegenvirus? Ein „Freundbild“ statt eines Feindbilds?
“Freundbild“ das klingt wunderbar! An diesem „Freundbild“ malen wir ja schon in unserm Interview. Vielleicht schaffen wir hier ein solches heilsames Gegenbild, eine Alternative zum Feindbild.
“Freundbild“ das klingt wunderbar! An diesem „Freundbild“ malen wir ja schon in unserm Interview. Vielleicht schaffen wir hier ein solches heilsames Gegenbild, eine Alternative zum Feindbild.
In einem Ihrer Briefe erwähnen Sie die „dynamische Balance in der Mitte“, die Sie als das Göttliche beschreiben. Welche Bedeutung hat diese Balance?
Die Balance ist, ich sagte es schon, ein Ausdruck der Mitte. Die Mitte ist der Ort, der am weitesten von den Extremen entfernt ist. Dort entsteht ein Gleichgewicht, das nicht durch künstliche Feindbilder gestört wird. Allerdings ist die Mitte kein starrer, unbeweglicher Punkt, sondern ein Kraftzentrum. Es ist der Ort, an dem Leben entsteht und sich entfaltet. Leben entsteht immer aus einem ursprünglichen Impuls. Ich rufe noch einmal das Beispiel des Baumes in Erinnerung. Die Mitte ist der Kern, der Ursprung, aus dem sich alles entwickelt. Dieser Ursprung ist lebendig und führt zu einer zunehmenden Komplexität und Vielfalt. Doch diese Vielfalt kann dazu tendieren, sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln, was manchmal zu Gegensätzen oder sogar Feindseligkeiten führt. Wenn jedoch eine Balance von der Mitte aus besteht, dann stehen diese Gegensätze nicht mehr in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich. Sie interagieren, sie „spielen“ miteinander – ähnlich wie ein Pianist, der die Tasten auf beiden Seiten seines Instruments nutzt. Wenn er links und rechts spielt, unterschiedliche Geschwindigkeiten, verschiedene Melodiebögen miteinander verbindet, dann entsteht eine hochkomplexe Harmonie. Das nennen wir Musik – und diese kann uns über das ausschließende Gut-Böse -Denken erheben. Diese Balance hebt uns aus einer simplen Bewertung „Ich bin gut, der andere ist schlecht.“ heraus. Stattdessen verschmelzen die Gegensätze zu einem schöpferischen Ganzen, das uns alle trägt und gleichzeitig wachsen lässt. Das ist die Kraft der Mitte.
Ich fand Ihr Bild mit dem Samen besonders schön. Unsere Leser können es nicht sehen, aber Sie haben dabei Ihre Hände auseinanderbewegt – wie ein Baum, der wächst, größer wird, sich nach links und rechts ausdehnt.
Dieses Bild kann man auch auf unser Denken übertragen. Wenn ich einen neuen Gedanken sofort bewerte – als gut oder schlecht – dann wächst er einseitig, bekommt Schlagseite. Der „GedankenBaum“ kann nicht mehr gerade wachsen. Er kann sich nicht richtig entfalten. Um wirkliche Balance zu erreichen, ist es wichtig, in eine inneren Stille, eine Art „lichte Stille“ in sich selbst freizusetzen.
Um wirkliche Balance zu erreichen, ist es wichtig, in eine inneren Stille, eine Art „lichte Stille“ in sich selbst freizusetzen.
Denn erst wenn ich mit mir selbst im Einklang bin, kann ich eine Wahrnehmung entwickeln, die nicht nur in Freund-Feind-Kategorien denkt. In dieser Stille bin ich offen für das, was ich noch nicht kenne. Und Offenheit bedeutet, dass ich Dinge erst einmal unvoreingenommen annehme, ohne sie sofort einzuordnen. Das ist jedoch eine große Herausforderung, denn unser Überleben hängt oft davon ab, dass wir schnell bewerten und kategorisieren. Daher ist es wichtig, bewusst Energie darauf zu verwenden, diesen reflexartigen, automatisierten Bewertungsprozess in den Denkprozessen zu verlangsamen – ihn zu beruhigen oder vielleicht sogar ganz zum Stillstand zu bringen.
Dann kann ich mir Fragen stellen:
Wer oder was macht mir eigentlich Angst?
Ist das eine reale Bedrohung oder nur eine Vorstellung?
Kommt die Angst aus einer äußeren Beeinflussung, vielleicht aus Propaganda?
Nehmen wir ein Beispiel:
Manche Menschen haben Angst vor „den Russen“. Aber warum eigentlich? Kenne ich persönlich jemanden aus Russland? Weiß ich wirklich, was historisch passiert ist? Wenn ich echtes Wissen habe, dann fürchte ich Menschen nicht einfach aufgrund ihrer Herkunft. Doch wenn mir nur ein Bedrohungsszenario vermittelt wird, dann wird mein Denken von einer Vorstellung bestimmt – und diese Vorstellung beeinflusst mein Verhalten. Dann kann ich mich gar nicht mehr wirklich öffnen. Ich bewerte automatisch und bin nicht mehr in der Lage, nicht zu bewerten. Die Bewertung hat mich bereits im Griff – sie wirkt wie ein Virus.
Mir gefällt das Gegengift, das Sie gerade entwickeln: nämlich bewusst Energie darauf zu verwenden, nicht sofort zu bewerten. Die Ermutigung, erst einmal nur zu beobachten, ohne sofort zu bewerten. Hypothesen aufzustellen: Es könnte so sein, aber es könnte auch andere Gründe geben. Einfach die Bewertung für einen Moment zurückzuhalten.
Ja, das macht das Leben lichter.
Mir fällt dazu ein Gedanke vom Anfang unseres Gesprächs ein – Ihr wunderbares Beispiel mit dem Vogel.
Wenn der Vogel fliegt, schlagen seine Flügel nicht ununterbrochen. In der Mitte, in dieser lichten Ruhe, gleitet er einfach durch die Luft. Er wird von den beiden Flügeln an den äußeren Enden getragen, aber er ist in Balance mit dem Wind, mit seinem Medium, seinem Umraum. Übertragen auf unser Denken bedeutet das: Wenn wir uns wie dieser Vogel verhalten und in Balance mit unserem „Denkfeld“ bleiben, dann sind wir nicht mehr von extremen Positionen hin- und hergerissen. Wir befinden uns im Einklang mit einem dem Denkfeld das für uns als Menschen von entscheidender Bedeutung ist.
Das heißt, er ist im Einklang mit seinem Medium?
Übertragen auf das Denken bedeutet das: Wenn wir wie der Vogel denken und im Gleichgewicht mit dem Denkfeld sind – einem enormen, uns Menschen massgeblich bestimmendes Feld –, dann gelangen wir in einen Zustand der beobachtenden Ruhe. Wir können uns darin bewegen, agieren und im Gleichgewicht bleiben, während wir die Dinge betrachten. Und es ist völlig klar: Wenn man sich in dieser Mitte befindet, bedeutet Wachstum immer auch, andere zu fördern. Wenn dieser Aspekt fehlt, verliere ich den Bezug zur Ganzheit. Wenn ich mein eigenes Wachstum fördern will, muss ich auch das Wachstum des anderen fördern. Das ist das schöpferische Feuer. Wenn ich mein Licht erhellen will, muss ich das Licht anderer steigern. Und umgekehrt gilt das ebenso: Wenn ich meine eigene Vernichtung will, dann müsste ich die der anderen anstreben. Doch das ist wohl keine erstrebenswerte Alternative.
Deshalb sind Freundbilder besser als Feindbilder.
Das Freundliche bedeutet, dem anderen Raum zu geben. Ein Feind hingegen bedroht – das heißt, er engt den eigenen Raum ein. Und Bedrohung führt zu Enge, Enge wiederum zu Angst. Ein Feindbild ist immer ein Angstbild. Wer ein Feindbild hat, lebt im Mangel, weil Angst ein Gefühl des Mangels erzeugt. Ein Freundbild hingegen bedeutet Fülle, weil es die Möglichkeit gibt, Raum zu geben – Vertrauen, Zuversicht, Unterstützung. Aber das Freundbild erfordert mehr Arbeit als das Feindbild. Es ist kein Automatismus, kein Virus – es muss aktiv gestaltet werden, wie ich schon sagte.

Sie haben in Ihrem Atelierbrief ein Bild eines Gemäldes von Ihnen beigefügt. Ich finde das Bild unglaublich dynamisch.
Ja, das ist genau der Punkt. Das Freundbild braucht Dynamik – es ist nie fertig.
Ich habe einmal ein schönes Zitat gehört: „Balance ist eine Illusion – balanciere deine Notwendigkeit.“
Das trifft es gut. Man muss sich auf dem Seil bewegen, sonst fällt man herunter.
Das bedeutet also, man kann nie wirklich ankommen?
Das ist vielleicht der „negative“ Aspekt. Man erlebt eine enorme Vielfalt und Größe, aber man muss in Bewegung bleiben. Das lässt sich paradoxerweise nur so ausdrücken: Es ist eine statische Dynamik – oder eine dynamische Statik. Wie beim Tanz. Wenn man tanzt, geht es nicht nur allein darum, das Gleichgewicht zu bewahren. Vielmehr spielt man mit den Extremen, und genau daraus entsteht die Tanzgestalt. Diese Tanzgestalt ist ein wunderbarer Ausdruck des Lebendigen. Das Bild, von dem wir sprechen, ist also auch eine Art Tanz – ein Tanz, der aus der Mitte kommt und diese dynamische Statik repräsentiert.
Ein schönes Bild. Das heißt, wir wünschen den Menschen einen schönen Tanz durchs Leben?
Ja, ein Leben als Tanzfigur zu verstehen – eine Figur, in der Statik die Grundlage für die extremsten Bewegungen bildet und dabei eine freudige, komplexe und inspirierende Lebensform erzeugt. Wenn Menschen tanzen und die Dynamik spüren, die sich aus der Mitte heraus entwickelt, dann bringt das große Freude – sowohl für die, die tanzen, als auch für diejenigen, die zuschauen.
Das ist wirklich ein schönes Bild. Vielen Dank für das Gespräch über die Mitte.