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MAA spricht mit Martin Muck
Isoliertes Leben im Wald: Martin über seinen Rückzug aus der Gesellschaft
Er hatte alles: gutes Gehalt, Ansehen, ein komfortables Leben in der Stadt. Doch innerlich war er leer. Die Reißleine zog er radikal – und lebt heute allein in einem selbst ausgebauten Bauwagen mitten im Wald. Kein Strom, kein WLAN, keine Termine. In diesem Interview erzählt er, warum Verzicht für ihn keine Einschränkung ist, sondern der Beginn von echter Freiheit.
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Bild: Canva
Martin, du lebst heute sehr zurückgezogen. Nimm uns mit – wie sah dein Leben früher aus?
Mein früheres Leben war das, was viele als „erfolgreich“ bezeichnen würden. Ich war Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen, hatte ein sechsstelliges Jahresgehalt, ein schönes Haus, eine Beziehung, Urlaube, Restaurantbesuche, alles. Aber ich war innerlich leer. Ich habe die Tage abgespult, das Wochenende herbeigesehnt, meine Beziehung war oberflächlich, mein Körper chronisch erschöpft. Ich funktionierte – und das war’s.
"Wofür das alles?"
Irgendwann kam die Frage in mir hoch: Wofür das alles? Wofür sitze ich acht Stunden am Schreibtisch, damit ich mir dann einen Fernseher kaufen kann, um abends den Tag zu vergessen? Ich wurde immer reizbarer, unruhiger, ich schlief schlecht. Ich war ein Getriebener – aber keiner wusste, wohin ich eigentlich wollte. Ich selbst am wenigsten.
Gab es einen konkreten Auslöser, der dich zum Umdenken gebracht hat?
Es war kein Schicksalsschlag, wie man es oft liest. Kein Burnout mit Klinikaufenthalt, keine Trennung. Es war eher ein langsames Zerbröckeln. Eine Art inneres Abblättern von allem, was mir wichtig erschien. Ich weiß noch, wie ich einmal am Flughafen stand – geschäftlich unterwegs, natürlich in der Lounge, alles perfekt – und ich spürte plötzlich: Ich will einfach nur raus. Nicht aus dem Flieger. Aus dem ganzen Leben.
Dann habe ich angefangen, mich mit alternativen Lebensmodellen zu beschäftigen. Ich habe Bücher gelesen, Dokus geschaut, bin wandern gegangen, allein, stundenlang. Und irgendwann war der Gedanke da: Was wäre, wenn ich einfach nichts mehr bräuchte? Keine Wohnung, keinen Vertrag, kein Auto, keine Uhr. Nur einen Platz. Und Stille.
Und wie ist daraus der Bauwagen im Wald geworden?
(lacht) Ja, das klingt erst mal nach Aussteigerromantik – war es aber nicht. Ich habe einen kleinen alten Bauwagen über eBay gekauft. Der stand fast zwei Jahre in einer Halle, bis ich ihn hergerichtet hatte: Dämmung, Holzofen, ein kleiner Gaskocher. Dann habe ich ein Waldstück gepachtet – legal, wohlgemerkt – und den Wagen dort abgestellt.
Am Anfang war das alles sehr provisorisch. Kein fließendes Wasser, kein Strom, keine Heizung außer dem Ofen. Ich wusste nicht, ob ich das durchhalte. Aber ich wusste: Ich muss es zumindest versuchen. Es war mein letzter Versuch, mich selbst zu retten.
Wie waren die ersten Wochen?
Hart. Ich war es gewohnt, dass man auf einen Knopf drückt und dann passiert etwas. Heißes Wasser. Licht. Musik. All das fiel weg. Stattdessen: Kälte, Dunkelheit, Geräusche, die ich nicht kannte. Die erste Nacht war schlimm – ich hörte jedes Rascheln, jedes Knacken. Aber am zweiten Morgen wachte ich auf, öffnete die Tür und da war nur Wald. Nebel, der zwischen den Bäumen hing. Vögel, sonst nichts. Und in mir: Stille. Das war der Moment, in dem ich wusste: Ich bin angekommen.
Wie sieht ein typischer Tag heute für dich aus?
Ich stehe auf, wenn es hell wird. Im Sommer früher, im Winter später. Ich heize den Ofen ein, koche mir Tee, lese. Ich arbeite draußen – säge Holz, baue Dinge, pflege den Garten, den ich mir angelegt habe. Ab und zu fahre ich mit dem Fahrrad in den nächsten Ort, um Lebensmittel zu besorgen. Ich schreibe viel – Tagebuch, Gedanken, manchmal Gedichte. Manchmal sitze ich einfach nur da und schaue. Kein Ziel. Kein To-do.
Was war die größte Herausforderung in diesem neuen Leben?
Die Konfrontation mit mir selbst. In der Stille hörst du plötzlich alles, was du vorher übertönt hast: alte Verletzungen, falsche Entscheidungen, Selbstzweifel. Es gibt kein Netflix, kein Handy, kein Meeting, hinter dem du dich verstecken kannst. Ich musste mich aushalten lernen. Und das ist das Schwerste, was ich je getan habe.
Es gab Tage, da habe ich geweint – nicht vor Traurigkeit, sondern weil alles so pur war. Du kannst dich in einem 40-Quadratmeter-Loft verlieren. Aber in 7 Quadratmetern ohne Ablenkung – da findest du dich. Oder du gehst zugrunde.
Wie reagieren andere auf deinen Lebensstil?
Unterschiedlich. Manche sagen: „Respekt, aber ich könnte das nie.“ Andere: „Spinnst du? Du hattest doch alles!“ Für viele ist es nicht nachvollziehbar, dass man freiwillig auf Komfort verzichtet. Aber ich habe nie versucht, jemanden zu überzeugen. Ich bekehre niemanden zum Minimalismus. Das hier ist kein Trend. Es ist mein Weg zurück zu mir.
Was vermisst du – wenn überhaupt – aus deinem alten Leben?
Ein gutes Bad. (lacht) Und manchmal Menschen. Es gibt Tage, da sehne ich mich nach einem echten Gespräch. Nach Tiefe. Ich habe auch Freundschaften losgelassen – nicht, weil die Menschen schlecht waren, sondern weil wir plötzlich keine Sprache mehr füreinander hatten. Sie verstanden nicht, warum ich keine Karriere mehr wollte. Und ich verstand nicht mehr, warum man sich kaputtarbeitet, um sich am Wochenende davon zu erholen.
Aber ich habe neue Verbindungen geknüpft. Zu Menschen, die auch anders denken. Und ich habe gelernt, mit mir selbst in Beziehung zu treten. Früher war ich nie allein – aber oft einsam. Heute bin ich oft allein – aber fast nie einsam.
Was hast du durch dieses Leben gewonnen?
Freiheit. Stille. Und eine radikale Ehrlichkeit mit mir selbst. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Ich bin nicht mehr getrieben von Erwartungen, Zielvereinbarungen, Statussymbolen. Ich brauche keine Likes, keine Markenklamotten, keine Urlaube zum „Runterkommen“, weil ich gar nicht mehr „hochfahre“.
Ich habe gelernt, dass Leben nicht im Terminkalender stattfindet. Sondern im Jetzt. Im Geräusch der Amsel. Im Knacken des Holzes. In der Einfachheit.
Und wenn du zurückblickst: Gibt es etwas, das du bereust?
Nur, dass ich es nicht früher gemacht habe. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, mich anzupassen, Erwartungen zu erfüllen, Erfolg zu spielen. Ich wünschte, ich hätte mit 30 schon den Mut gehabt, zu sagen: „Nein.“ Aber vielleicht brauchte ich diesen Umweg. Vielleicht war all das nötig, um heute sagen zu können: Ich bin frei.
Was würdest du Menschen sagen, die spüren, dass ihr Leben sie nicht mehr erfüllt – aber Angst haben, auszubrechen?
Ich würde ihnen sagen: Du bist nicht verrückt, wenn du das Gefühl hast, dass du so nicht weitermachen kannst. Verrückt ist, wenn du dieses Gefühl ignorierst. Es muss nicht jeder in den Wald ziehen. Aber jeder sollte sich fragen: Wem gehört mein Leben eigentlich? Mir – oder einem System, das mich verschlingt?
Der erste Schritt ist nicht der Bauwagen. Der erste Schritt ist das Aufwachen. Alles andere ergibt sich dann. Und vielleicht beginnt dein wahres Leben genau da, wo du es am wenigsten erwartest: in der Stille.